IT- und Internetwirtschaft befürchten, dass der EU-Ausstieg Großbritanniens gravierende Handelshemmnisse und große rechtliche Hürden mitbringt. Der deutsche Startup-Verband sieht Berlin als Gewinner, London als Verlierer.

Die Entscheidung von knapp 52 Prozent der Briten, die EU verlassen zu wollen, hat nicht nur die Börsen in Aufruhr versetzt und Premierminister David Cameron von den Konservativen zum Rücktritt getrieben, sondern Sorgen bei der IT- und Internetwirtschaft ausgelöst. „Großbritannien ist für Deutschland seit Jahren eines der wichtigsten Exportländer für IT- und Telekommunikationsprodukte und ein bedeutender Handelspartner“, erklärte Bernhard Rohleder vom Digitalverband Bitkom. Sicher sei, dass durch den Brexit „neue Bürokratie auf die Unternehmen zukommt“. Der Verband hatte vor dem Brexit gewarnt.

Auswirkungen gering halten

Angesichts des Ausstiegs der Briten hält es der Bitkom nun für wichtig, „die Auswirkungen auf die deutsche und europäische Digitalwirtschaft möglichst gering“ zu halten. „Ein gemeinsamer digitaler Binnenmarkt, der Großbritannien mit einschließt, muss unser Ziel bleiben“, postuliert Rohleder. Sonst werde ein „Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China“ erschwert.

Zu befürchten ist laut der Lobbyvereinigung, dass IT-Dienstleister, die fast immer in internationalen Teams arbeiteten, im Zusammenspiel mit Großbritannien „künftig nicht mehr von der Arbeitnehmerfreizügigkeit profitieren können“. Von der gerade mühsam verabschiedeten EU-Datenschutzverordnung über Verbraucherschutzrechte bis hin zu Umweltschutzrichtlinien seien eine Vielzahl von Regeln betroffen. Diese würden mit Vollzug des Austritts ihre Gültigkeit verlieren oder in Frage gestellt. Bei Konzernen, die ihre Zentralen oder Niederlassungen auf der Insel hätten, werde etwa der „freie Austausch von Kundendaten eingeschränkt“. Auch die britischen Verbraucher dürften wohl nicht mehr unter bislang von der EU aufgespannte Schutzschirme unterkommen.

„Schwerer Rückschlag“

Oliver Süme, Vorstand Politik und Recht beim eco-Verband der Internetwirtschaft, wertete den Brexit ebenfalls als „schweren Rückschlag auf dem Weg hin zum einheitlichen digitalen Binnenmarkt“. Es könne nun zwei Jahre oder länger dauern, bis sich Großbritannien und die EU nach einem Austrittsantrag über die Details geeinigt haben. Die schwierigen laufenden Verhandlungen über das „Privacy Shield“ mit den USA gäben exemplarisch einen Eindruck, welcher Verhandlungsmarathon bevorstehe. Das bringe „enorme Rechtsunsicherheit“. Die zuständige britische Behörde versicherte derweil bereits, man wolle ein vergleichbares Datenschutzniveau zur EU sicherstellen.

Als möglichen positiven Impuls des Austritts bezeichnete Süme Hinweise darauf, dass Berlin nun London den „Rang als wichtigsten europäischen Standort für Startups ablaufen könnte“, weil eine Gründung in der britischen Metropole „immer unattraktiver wird“. Florian Nöll, Vorsitzender des Bundesverbands deutsche Startups, gibt sich hier schon entschiedener: „Berlin ist der Gewinner des Brexit, London der Verlierer.“ Dies sei aber ein Sieg, „den wir nicht wollen und nicht feiern werden“, da die angeschlossenen Gründer an die europäische Idee glaubten.

Rückschlag für Exportwirtschaft

Der Bundesverband IT-Mittelstand (BITMi) warnte, dass durch neue Zollbeschränkungen oder Handelshemmnisse bis hin zu möglichen abweichenden Zulassungsverfahren für Produkte Exporte deutscher und europäischer Produkte und Dienstleistungen stark gehemmt werden könnten. Die EU bedürfe nun einer Reform, um eine „protektionistische Politik“ zu verhindern.

Die Felle seiner Mitglieder davonschwimmen sieht parallel der Tiga-Verbund der britischen Video- und Computerspielebranche. Er befürchtet, dass es für von ihm vertretenen, exportorientierten Firmen mit dem Brexit schwerer werde, den bisherigen Zugang zu Wagniskapital und Fachkräften aufrechtzuerhalten. Auch die Auswirkungen auf das Umfeld für Immaterialgüterrechte, in denen Tiga das „Lebensblut“ des Sektors sieht, könnten umfassend sein, wenn britische Firmen keinen gemeinschaftlichen Design- oder Markenschutz mehr beantragen oder Urheberrecht nur noch schwerer durchsetzen könnten. Die Zukunft des geplanten europäischen Einheitspatents mit einem Gerichtssitz in London steht mit dem Ausstieg komplett in den Sternen.

Über diese und andere Brexit-Folgen haben viele Briten offenbar zu spät nachgedacht: Bei Google schnellten Suchanfragen im Stile von „Was passiert, wenn wir die EU verlassen“ erst nach oben, als die Wahllokale schon geschlossen waren.

Quelle: http://heise.de/-3248583